Freitag, 15. August 2014

Wie alt ist er doch gleich? - Leben mit verbaler Entwicklungsdyspraxie.

Gestern war ich mit dem Zwergenkönig beim Augenarzt. In der Sehschule wurde er auf Fehlsichtigkeit getestet, die sich zum Glück nicht bestätigte. Die Untersuchung war relativ umfangreich und dauerte insgesamt ca. 30 Minuten.
Nach ungefähr 20 Minuten hielt die Orthoptistin inne, lächelte meinen Sohn an und sagte: "Du machst das richtig, richtig gut. Einfach toll!"
Dann schaute sie mich freundlich an, schien zu überlegen und fragte: "Wie alt ist er doch gleich?"

Ich hielt die Luft kurz an, denn diese Frage kenne ich. Noch während ich meinen zurechtgelegten Satz aus dem Gedächtnis hervorkramen wollte, sprach sie weiter: "Das ist wirklich gut, wie er die Symbole benennt, wie er kooperiert und umsetzt, was man ihm sagt."
Verblüfft nickte ich nur, denn mit dieser Aussage hatte ich nicht gerechnet.

Als Elternteil eines Kindes mit verbaler Entwicklungsdyspraxie wird man sehr demütig und kommt ganz schnell auf die Rechtfertigungsschiene.

Mit 10 Monaten sagte der Zwergenkönig "Mama" und "Hammer". Danach kam lange nichts mehr. Motorisch war er gut entwickelt, er konnte mit sechs Monaten sitzen und krabbeln. Mit sieben Monaten lief er die Laufgitterwand entlang. Freies Laufen erfolgte schließlich ganz durchschnittlich mit 13 Monaten. Auch ansonsten bereitete uns seine Entwicklung keinen Grund für schlaflose Nächte.

"Kein Grund zur Besorgnis", konstatierte unser damaliger Kinderarzt, als ich ihn zur U7 auf die undeutliche Aussprache des Zwergenkönigs hinwies. Mein Bauchgefühl sagte was anderes, aber ich beschloss abzuwarten. Man hört und liest ja so oft von wahren Sprachschüben über Nacht.

Im Frühjahr 2013 war für mich der Zeitpunkt gekommen, dass ich eine Fachkraft befragen wollte. Mein Sohn war damals schon sehr sprechfreudig, aber alles war undeutlich, verwaschen. Der Kindergarteneintritt stand bevor.
Da musste was passieren. Also vereinbarte ich einen Termin beim Pädaudiologen. Der Facharzt ließ einen Hörtest machen, der unauffällig war. Auch organisch war nach eingehender Untersuchung alles in Ordnung.

Als der Zwergenkönig Wörter nachsprechen sollte, nickte der nette Pädaudiologe schließlich und bestätigte: "Ja, das ist undeutlich." Eine Steilvorlage, um eine Logopädieverordnung zu erbitten, dachte ich.
Da schaute der Doktor etwas irritiert und meinte: "Oh, das verschreiben wir eigentlich erst ab 4 Jahren. Dann erst sind die Kinder kooperativ genug, dass sie entsprechend mitarbeiten."
Das war nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte. Nach ein paar Minuten Diskussion erklärte sich der Arzt schließlich doch bereit, 10 Einheiten Logopädie zu verschreiben. "Und dann schauen wir mal", verabschiedete er sich von uns.

Die Logopädin, die ich aufsuchte, machte uns Mut und war sichtlich erleichtert, dass wir so frühzeitig angetreten waren. Die verwaschene Sprache entpuppte sich als verbale Entwicklungsdyspraxie, einer Störung der Sprechbewegungsplanung. Betroffene Kinder haben meist ein ganz normales passives Sprachverständnis, können jedoch die Artikulationsorgane nicht bewusst und gesteuert einsetzen.
Nach der Diagnose war ich zunächst geschockt, dann erleichtert. Nun wussten wir, was zu tun war.

Um unseren damaligen Kinderarzt ins Boot zu holen, vereinbarten wir einen Termin, um idealerweise eine Vernetzung von Pädaudiologe, Kinderarzt und Logopädin zu erwirken. Leider ging der Termin vollkommen in die Hose. Den ausführlichen Befund der Logopädin verriss der Kinderarzt. Er fand es unmöglich, dass wir vor der magischen 4 bereits Logopädie für unseren Sohn haben wollten. Er redete mit uns, als wären wir Schmarotzer, die kostbare Therapiegelder verschwenden wollten. Nie zuvor bin ich mir bei einem Arzttermin so unwürdig und doof vorgekommen. Der Doktor empfahl uns, Frühförderung für den Zwergenkönig zu beantragen. Damit entließ er uns aus der Sprechstunde.

Brav vereinbarte ich einen Termin zu einem Vorgespräch in Sachen Frühförderung bei der zuständigen "Lebenshilfe". Die freundliche Mitarbeiterin offenbarte mir am Telefon, dass unser Kinderarzt dafür bekannt wäre, an die Frühförderstelle zu verweisen, da dies sein Budget nicht belasten würde.

Bereits nach fünf Minuten Gesprächszeit (bzw. Beobachtungszeit) erklärte die Mitarbeiterin, dass unser Sohn keineswegs Frühförderung bräuchte, sondern vielmehr Logopädie. Dennoch ließ sie ihn einen Entwicklungstest absolvieren, der ihre Meinung bestätigte: Frühförderung ist für uns nicht der Schlüssel zum Erfolg.

Versteht mich bitte nicht falsch, ich verteufele keineswegs die Frühförderung. Für viele Kinder und ihre Eltern ist das eine feine Sache. Nur passte in unserem Fall das Störungsbild (verbale Entwicklungsdyspraxie) nicht zur vom Kinderarzt vorgeschlagenen Förderungsmaßnahme.
Wenn ein Kind schwerhörig ist, erhält es ein Hörgerät. Ist ein Kind fehlsichtig, bekommt es eine Sehhilfe. Warum sollte mein Sohn nicht bekommen, was er braucht? Was ihm zusteht?

Der Pädaudiologe erklärte sich nach der Diagnosestellung durch die Logopädin bereit, die maximalen 60 Einheiten Logopädie zu verschreiben. Aktuell nehmen wir die vorgeschriebene Pause von drei Monaten wahr, bevor wir im Herbst erneut in der logopädischen Praxis aufschlagen werden.

Und es ist unglaublich, wie hilfreich die Therapie für unser Kind war!
Unsere engagierte und so kompetente Logopädin hat zusammen mit unserem wunderbaren Kind wahre Wunder vollbracht.
Die sprachliche Diskrepanz zu Altersgenossen ist sehr viel geringer geworden.
Der Wortschatz ist altersgemäß, an der Aussprache wird weiter gefeilt. Der Zwergenkönig redet den lieben langen Tag, erfindet komplexe Rollenspiele und liebt es, Geschichten aus seinen Büchern "vorzulesen".

Vorbei sind die Zeiten, in denen man auf dem Spielplatz ungefragt Tipps erhielt: "Viel vorlesen hilft. Fernsehen ist nicht gut." Aha.
Unvergessen bleibt der Klopper, den die Mutter eines Kindergartenkindes brachte, als wir darüber sprachen, dass unsere Kinder eventuell mal zusammen spielten könnten: "Hm, ich weiß nicht. Die XY ist ja schon sooo weit."

Auf andere Art nicht konstruktiv waren die Beschwichtiger, die meinten, "das verwächst sich schon", "ist halt ein Junge", etc.

Was ich mit meinem ellenlangen Posting sagen will:

Liebe Eltern von Kindern mit Sprachförderbedarf, lasst Euch nicht abspeisen von Kinderärzten, die Euch vertrösten wollen.

Hört auf Euer Bauchgefühl!

Wenn Ihr der Meinung seid, dass etwas nicht stimmt, dann geht den längeren Weg, befragt den Kinderarzt, den Facharzt, lasst einen Hörtest machen, nehmt ein Erstgespräch in einer logopädischen Praxis in Anspruch.
Und scheut Euch nicht, eine zweite ärztliche Meinung einzuholen.

Was ich im Wartezimmer unserer Logopädin von anderen Eltern an Geschichten über verschreibungsunwillige Kinderärzte gehört habe, geht auf keine Kuhhaut.
Und gerade bei dieser Sprachstörung ist eine frühestmöglich beginnende Therapie so wichtig.

Zwangsläufig habe ich mich in das Thema eingelesen und durfte eben auch besagte Erfahrungen machen. Wer aufgrund eigener Betroffenheit Fragen dazu hat, kann mich gern kontaktieren.

Entschuldigt die Länge meines heutigen Eintrags, aber das Thema liegt mir sehr am Herzen.

Meinen Lesern einen schönen Abend!

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